Plätze der Befreiung

In Irakisch-Kurdistan protestiert die urbane Mittelschicht gegen die Regionalregierung

Von: Mary Kreutzer und Thomas Schmidinger

Die Proteste in der arabischen Welt haben auch in Irakisch-Kurdistan die Bevölkerung dazu ermuntert, ihre Unzufriedenheit mit der kurdischen Regionalregierung auf die Straße zu tragen. Am 17. Februar entlud sich die lange angestaute Wut. Sie richtet sich gegen die zunehmend autoritäre Regierung der vom Barzani-Clan kontrollierten Demokratischen Partei Kurdistans (DPK). Vorreiter der Protestbewegung ist dabei einmal mehr das als Hochburg des säkularistischen kurdischen Nationalismus bekannte Suleymania. Die Stadt war früher Hauptsitz der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) und ist heute das Zentrum der Oppositionspartei Gorran, die im Wesentlichen aus einer Abspaltung der PUK besteht, aber auch viele Unabhängige integriert.

Nachdem am 17. Februar in Arbil/ Hawler, der Hauptstadt der Kurdistan-Region, das Gorran-Parteibüro in Brand gesetzt wurde, eskalierten die Proteste in Suleymania, der zweitgrößten Stadt Irakisch-Kurdistans. Eine Gruppe junger Männer hatte zuvor das lokale Parteibüro der DPK mit Steinen beworfen. Ein bislang ungeklärter Schusswechsel hinterließ einen Toten und über 50 verletzte ZivilistInnen. In der Folge distanzierte sich Gorran-Parteichef Nawshirwan Mustafa Emin plötzlich von den DemonstrantInnen. Die Jugendlichen wurden auch in den Medien der Oppositionspartei als Randalierer präsentiert. Am nächsten Tagen kam es zu weiteren Protesten, die sich vor allem gegen die Polizeigewalt richteten und an denen sich auch einige prominente Intellektuelle beteiligten. Die Regierung schickte daraufhin Spezialeinheiten, die so genannten Zeravani, in die Stadt. AktivistInnen der Opposition aus Suleymania berichteten, dass alle paar Meter Bewaffnete standen. Einer schrieb sogar: „Heute haben sie Suleymania besetzt!“ Den Zeravani gelang es allerdings weder, die Proteste zu verhindern noch eine verkündete Ausgangssperre durchzusetzen. Allerdings wirkte der martialische Aufzug der Einheiten ebenso einschüchternd wie ein Angriff auf den kritischen Fernsehsender Nalia TV, bei dem die Redaktionsräume verwüstet und in Brand gesetzt worden waren.

Trotzdem gingen die Proteste weiter, nicht nur in Suleymania, sondern auch in einigen kleineren Städten. Die Regierung reagierte darauf mit der gezielten Einschüchterung Intellektueller, die es gewagt hatten, gegen das Vorgehen der Sicherheitskräfte zu protestieren. Gegen den Philosophen Faruq Rafeq, dessen Organisation Xane Hikmet (Haus der Weisheit) in den letzten Jahren mehrfach internationale wissenschaftliche Konferenzen veranstaltet hatte, wurde ein Haftbefehl gestellt. Ein weiterer Haftbefehl erging gegen Musana Amin, ein Mitglied der Islamischen Union Kurdistans (eine gemäßigt islamistische Oppositionspartei). Amin hatte die friedliche Demonstration am 17. Februar angemeldet.
Die Haftbefehle wurden allerdings nicht vollstreckt, und die Protestbewegung ließ sich davon auch wenig beeindrucken. Bemerkenswert sind ihre expliziten Bezugnahmen auf die Revolution in Ägypten. Es ist lange her, dass sich irakische KurdInnen positiv auf irgendetwas ‚Arabisches‘ bezogen. In den letzten Jahren wurde die eigene Leidens- und Verfolgungsgeschichte zunehmend als „Genozid der Araber“ am „kurdischen Volk“ interpretiert. Arabische Binnenflüchtlinge aus dem Zentralirak wurden zumindest skeptisch beäugt, als billige Arbeitskräfte ausgebeutet und jedenfalls nicht als Landsleute betrachtet.
Das Bild von den autoritären Arabern scheint nun jedoch Risse bekommen zu haben. Plötzlich gilt Kairo als Vorbild. Die DemonstrantInnen in Suleymania benannten den Platz vor dem Derkei Serai nach dem Tahrir-Platz in Kairo in „Platz der Befreiung“ um. Intellektuelle wie Assos Herdi und Rebin Herdi hielten nun dort ihre Ansprachen. Der Platz wurde zum zentralen Ort des Protestes und die Studierenden der Universität von Suleymania zu einem der zentralen Träger.

In einem Forderungskatalog der DemonstrantInnen vom 28. Februar finden sich die Interessen dieser jungen urbanen Mittelklasse deutlich widergespiegelt. So beziehen sich die Forderungen nicht allein auf Neuwahlen, wirksame Anti-Korruptionsmaßnahmen sowie eine endgültige Entflechtung von Parteien und Regierung, sondern auch auf verbesserte finanzielle Unterstützung. „Inzwischen bieten mehr als zwölf staatliche und private Universitäten jungen Menschen Studienplätze. Aber die Erwartung, von der Regierung hinterher angestellt zu werden und damit verbundenes Einkommen und verbesserte Möglichkeit zu Eheschließung und sozialer Eigenständigkeit, sehen die jungen Leute seit Jahren nicht erfüllt“, erläutert die Orientalistin und Sozialanthropologin Andrea Fischer-Tahir, die sich in ihrem jüngsten Buch „Brave men, pretty women?“ mit den sich wandelnden Geschlechterverhältnissen in der urbanen Gesellschaft Irakisch-Kurdistans beschäftigt.
Die Eskalation der Gewalt in Irakisch-Kurdistan rief zunehmend Stimmen auf den Plan, die versuchten, deeskalierend zu wirken. Mehrere Gruppen etwa von JournalistInnen, KünstlerInnen, Intellektuellen oder islamischen Gelehrten forderten die Regierung in Offenen Briefen auf, die DemonstrantInnen demonstrieren zu lassen und die Gewalt bei der Repression aufzuklären. Zugleich wurden die DemonstrantInnen aufgefordert, ihren Protest gewaltlos auszudrücken. Der Premierminister der Kurdistan-Region, Barham Salih (PUK), verurteilte die Brandstiftung gegen Nalia TV. Dieser Stellungnahme des Premierministers folgten 14 Medien und die Journalistengewerkschaft, die alle den Angriff verurteilten.

Im März dauerten die Demonstrationen in Suleymania an. Kurdische Behörden, die Oppositionsparteien und die DemonstrantInnen vermieden dabei Eskalationen. Zu deutlich sind noch die Erinnerungen an den innerkurdischen Bürgerkrieg zwischen DPK und PUK in den Jahren 1994 bis 97. Und zu groß ist die Gefahr, die bei bürgerkriegsähnlichen Zuständen dem Status des kurdischen Autonomiegebietes im Irak drohen würde. Irakisch-Kurdistan ist eben kein selbstständiger Staat, bis heute sind nicht einmal die Grenzen der Autonomieregion festgelegt. Zwar hat die irakische Zentralregierung im unumstrittenen Kerngebiet der Autonomieregion nichts zu sagen, doch bleiben dessen zukünftiges Territorium und das Ausmaß der Selbstständigkeit umstritten. Zumindest in diesen Fragen sind sich die politischen Kräfte Irakisch-Kurdistans jedoch weiterhin einig.

Thomas Schmidinger und Mary Kreutzer sind aktiv bei der Liga für emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit (Leeza), die unter anderem in Irakisch-Kurdistan Frauenprojekte unterstützt.

Quelle: iz3w 324, Mai/Juni 2011

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