Angehörige der Opfer des Giftgasangriffes auf Halabja stürmen Gedenkstätte und protestieren gegen Korruption
Wie jedes Jahr, wollten Vertreter der Kurdischen Regionalregierung am heutigen Jahrestag des Giftgasangriffes auf Halabja, bei dem 5000 Menschen im Jahr 1988 von Saddam Husseins Regime ermordet wurden, eine Gedenkfeier in Erinnerung an die Opfer abhalten.
Diese musste jedoch abgebrochen werden, als eine Menge von etwa 7000 protestierenden Kurdinnen und Kurden, darunter etliche Angehörige der Opfer von Halabja, die Feier mit Protestrufen unterbrachen und gegen die Vereinnahmung der Opfer durch die Kurdischen Behörden protestierten.
DemonstrantInnen und Angehörige der Opfer des Giftgasangriffes von 1988 stürmten das Halabja Memorial Museum, entfernten die Fotos ihrer Toten, und setzte die Gedenkstätte in Brand.
„Seit Wochen protestieren die Menschen in Halabja gegen die rituelle und staatlich organisierte Gedenkfeier. Die kurdischen Behörden erinnern sich nur ein Mal im Jahr an den Ort des Grauens, dann wird das Museum aufpoliert, die ausländische Presse wird angekarrt, die üblichen Reden abgehalten, und dann verlässt man den Ort wieder. Doch nichts wurde bis heute unternommen, um den von Saddams Truppen zerstörten Ort wieder aufzubauen. Die wirtschaftliche und soziale Situation hier ist nach wie vor eine Katastrophe und die Lage für die Menschen ist unerträglich“, so Fallah Mordakhin, der regionale Projektkoordinator der deutsch-österreichischen Hilfsorganisation WADI. Er selbst hat den Giftgasangriff von 1988 in den Höhlen der irakisch-iranischen Grenze als Kind überlebt.
„Die Behörden benutzen Halabja, um an Gelder heranzukommen, doch die Angehörigen, die Überlebenden des Giftgasangriffes, wurden bis heute nicht entschädigt“, so Mordakhin.
Die Proteste eskalierten, als anwesende Asaish (kurdische Geheimpolizei) einen 14-jährigen Demonstranten anschossen, der wenig später im Krankenhaus verstarb. Mittlerweile soll die Anzahl der Todesopfer gestiegen sein, weitere Verletzte befinden sich im Spital. Die Polizei nahm über unzählige DemonstrantInnen fest.
„Zur Zeit ist das Polizeigebäude von Halabja von einer großen protestierenden Menge umstellt, die die Freilassung der Gefangenen fordert. Sie drohen damit, auch das Regierungsgebäude in Brand zu setzen, wenn man auf ihre Forderungen nicht eingeht“, so Mordakhin. Weitere DemonstrantInnen versuchen indes, die Einfahrtsstraßen zu blockieren.
„Weg, weg, weg mit dieser Regierung!“, so ertönt es heute in den Straßen Halabjas, welches von der PUK, der Partei des irakischen Präsidenten Talabanis, kontrolliert wird.
Die kurdischen Behörden ließen unterdes verlautbaren, dass „fremde Mächte“ die Proteste organisiert hätten.
„Das ist definitiv Unsinn“, sagt Mordakhin, „seit über einem Monat warnen die EinwohnerInnen, Studenten, Jugendliche und Gruppen von Überlebenden von Halabja, dass sie es heuer nicht tolerieren werden, dass die Regierung sich auf ihre Kosten ins Rampenlicht stellt, während der Ort in Armut versinkt. Allein die Tatsache, dass das Museum nicht im Zentrum, sondern außerhalb, an der Einfahrtsstraße gebaut wurde, sagt einiges aus. Die Zeremonien sollen dort in aller Ruhe abgehalten werden, ausländische Gäste oder Journalisten werden gleich darauf hin wieder abgekarrt. Den seit 18 Jahren verwahrlosten und zerstörten Ort bekommt somit niemand je zu sehen. Die Menschen wollen diese Situation nicht mehr hinnehmen.“
„Doch die Verantwortung für eine angemessene Entschädigung der Opfer und für einen Wiederaufbau Halabjas tragen in erster Linie die deutsche Regierung – für die Lieferung von Giftgas, mit dem am 1.6.3.1988 an einem einzigen Tag über 5000 Menschen ermordet wurden – als auch Österreich, dessen Waffenlieferungen (z.B. die gefürchtete „Nimsawi“-Kanonen“) sowohl an das irakische Terrorregime Saddam Husseins als auch an das iranische Mullah-Regime während des Iran-Irak-Krieges die massenhafte Ermordung von KurdInnen auf beiden Seiten der Grenzen mitzuverantworten hat“, sagt Mary Kreutzer, Projektreferentin von WADI Österreich.
Thomas Schmidinger, Obmann von Wadi-Österreich, fordert zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts auf: „Gerade in einer Situation, in der der gesamte Irak sich unter den Händen privater Gewaltunternehmer aufzulösen droht, wäre es fatal, wenn sich nun auch in den kurdischen Gebieten eine Strategie der militärischen Lösung von Konflikten anbahnen würde. Die kurdischen Sicherheitskräfte sollen sich besser für die Sicherheit der einfachen Bevölkerung des Irak einsetzen, als auf DemonstrantInnen zu schießen. In einer solchen Situation können wir nur an alle Beteiligten appellieren eine friedliche Lösung des aktuellen Konflikts zu suchen und die Ursachen für die Proteste durch eine konsequente Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in Halabja zu beseitigen.“
„Die heutigen Proteste, die sich bereits seit Wochen ankündigten, zeigen jedoch auch die positiven Entwicklungen im Nordirak. Vor der Befreiung vom April 2003, als radikal-islamistische Gruppen ein Terrorregime in der Region rund um Halabja installiert hatten, wäre es ausgeschlossen gewesen, dass sich die Bevölkerung organisiert und auf die Straßen geht. Damals hätte es nicht einen Toten, sondern Tausende gegeben. Dass heute Leute auf die Straßen gehen und gegen Korruption und soziale Vernachlässigung protestieren können, und konkrete soziale und ökonomische Rechte einfordern, ist als positive Entwicklung einer aufkeimenden Zivilgesellschaft zu werten, die es auch weiterhin zu unterstützen gilt“, sagt Thomas von der Osten-Sacken, der Direktor von WADI in Deutschland.
Die deutsch-österreichische Hilfsorganisation Wadi ist seit 1993 im Nordirak mit Projekten aktiv und unterstützt u.a. in Halabja ein Frauenzentrum sowie den von Jugendlichen und Frauen geleiteten unabhängigen Radiosender „Dengue Nwe“.
Rückfragen:
Wadi Österreich – Mary Kreutzer (Wien) 0043-699-11365509
Fotos der Proteste unter: http://www.kurdmedia.com/
Links:
www.leeza.at